Der Bilanzskandal um den Zahlungsdienstleister Wirecard schockiert die Finanzbranche in Deutschland. Ein Zwischenruf aus dem Blickwinkel der Anlagewelt
Von DR. HERBERT WALTER – 23. Juni 2020
Geld richtig anzulegen, war noch nie ein Kinderspiel. Fast jeder Privatanleger macht irgendwann diese Erfahrung. Im Moment lernen auch Anlageprofis wieder einmal aufs Neue, wie es ist, mit einer Anlage auf die völlig schiefe Bahn zu geraten.
So hatte die DWS, eines der Vorzeigeunternehmen unter den deutschen Vermögensverwaltern, schon vor einiger Zeit die Kursschwäche genutzt und ihre Position in Aktien von Wirecard deutlich ausgebaut. Das Flaggschiff unter seinen Fonds, der „DWS Deutschland“, bestand in der Spitze aus knapp 10 Prozent Aktien der Wirecard.
Spätestens die Entwicklungen der letzten Tage haben dem Fondsmanagement die Augen geöffnet. Tim Albrecht, bei der DWS verantwortlich für die Flaggschifffonds, zeigte sich im Interview mit der FAZ am letzten Samstag reumütig: „Der große Einstieg bei Wirecard war im Nachhinein falsch.“
Man habe im Vorfeld Wirecard gründlich analysiert und sich auf das verlassen, was die Unternehmensführung den Fondsmanagern gesagt habe, so Albrecht. Seine mehr oder weniger unverblümte Botschaft: Unser Vertrauen wurde schwer enttäuscht. Deshalb prüft die DWS derzeit, ob der Klageweg beschritten werden soll.
„Bafin-Chef Hufeld: Eine Schande, dass so etwas passiert ist“
Weiter erschüttert wurde das Vertrauen in die Wirecard-Führung gleich zu Beginn der laufenden Woche durch das Eingeständnis des Vorstands, dass die angeblich von einem Treuhänder verwalteten 1,9 Mrd. Euro, das heißt ein Viertel der Bilanzsumme, gar nicht existieren. Angesichts möglicher Luftbuchungen ging der Kursverfall ins Bodenlose weiter. Innerhalb weniger Tage hat die Aktie von Wirecard 90 Prozent ihres Werts verloren.
Die Entwicklung ist zwar noch in vollem Gange. Aber schon jetzt stellt sich die Frage: Wie ist das Wirecard-Desaster aus dem Blickwinkel der Anlagewelt einzuordnen?
Viele Manager in der deutschen Finanzbranche sind noch mitten drin, das Thema in seinen immer neuen Wendungen erst einmal zu verdauen. Kaum einer ist schon wieder so weit, nach vorne zu gucken. Nur wenige hätten für möglich gehalten, was hier in wenigen Tagen vor sich gegangen ist.
Bafin-Chef Felix Hufeld sprach von einem kompletten Desaster und einer Schande für Deutschland, dass so etwas passieren konnte.
Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing sieht Auswirkungen weit über Wirecard hinaus.
Was könnte er damit meinen? Vielleicht die Aktienkultur in Deutschland – sie ist ohnehin eher unterentwickelt und wird durch den Bilanzskandal möglicherweise zusätzlichen Schaden nehmen. Vielleicht auch die Corporate Governance – angesichts einer sich lange hinschleppenden öffentlichen Diskussion um Unregelmäßigkeiten bei Wirecard wird auch die Frage zu beantworten sein, warum Führung und Aufsicht über ein DAX-30-Unternehmen nicht rascher auf Kurs gebracht werden konnten.
„Finger weg von der Wirecard-Aktie!“ – (Zu) spätes Verkaufssignal
Andere Finanzprofis wurden von den jüngsten Turbulenzen und dem Kurssturz der Wirecard-Aktie ebenfalls überrascht. Viele hielten sich bedeckt, manche reagierten lautstark. Die Analysten der Nord LB etwa nahmen das Kursziel von 80,00 Euro auf 20,00 Euro zurück. Sie raten jetzt plakativ: „Finger weg von der Wirecard-Aktie!!!“ Und senkten den Daumen auf „Verkaufen“.
Bis in die allerjüngste Vergangenheit hatte die Bank ihren Anlegern aber empfohlen, das Papier im Portfolio zu halten. Von Finanzberater*innen und ihren Führungskräften im Bankenmarkt waren zu Wochenbeginn kritische Töne zu hören: „Verkaufsempfehlungen wie diese hätten wir viel früher gebraucht.“
Warum? Das erläutert ein Bankvorstand aus einem größeren überregional tätigen Haus: „Wer als Berater einem Kunden empfehlen will, aus einer Aktie rauszugehen, braucht dafür geeignetes Research als Basis.“ Anders habe er keine Chance, die für das Beratungsprotokoll erforderliche Geeignetheitsprüfung hinzubekommen. „Um eine Verkaufsorder sauber zu begründen, genügt es nicht, beliebiges Info-Material zu Rate zu ziehen. Der Berater muss dafür ein Research zur Hand haben, das bestimmten Kriterien genügt.“
Überwiegend noch hinter vorgehaltener Hand wird die Frage diskutiert: Haben manche Analystenberichte im Falle Wirecard tatsächlich zu „gutgläubig positive Signale gesendet?“ – ein Thema, das DWS-Fondsmanager Albrecht offensiv adressiert hat.
Für die Ratingspezialisten von Moody’s ist Wirecard jetzt ein „hohes Risiko“. Am Freitag setzten sie die Bonitätsnote des Unternehmens um sechs Stufen auf Ramschniveau herab.
Zu Wochenbeginn entzog die Ratingagentur schließlich Wirecard komplett die Einstufung der Kreditwürdigkeit. Wegen des massiven Vertrauensverlustes befürchtet Moody’s, die Kunden könnten dem Zahlungsabwickler in Scharen davon laufen. Als Konsequenz wäre es denkbar, dass der Umsatz erodieren wird, weil künftig viel weniger Zahlungen abzuwickeln sind. Wie zu hören ist, zeichnet sich eine solche Entwicklung bereits ab.
Aktiv gemanagte Fonds: „Genauer hinschauen, was in der Tüte drin ist“
Viele Häuser haben seit längerem die Aktienanlage in Einzeltiteln kaum mehr im Angebot. Stattdessen empfehlen sie ihren Kunden, Aktien im Rahmen von aktiven oder passiven Fondsanlagen oder einer Vermögensverwaltung zu kaufen.
Wie im Markt zu hören ist, hatte die Vermögensverwaltung der einen oder anderen Bank den richtigen Riecher und noch rechtzeitig Wirecard-Aktien auf den Markt werfen können. Die Kunden dürften es ihnen danken.
Eine langjährige Anlageberaterin: „Wer aktiv gemangte Investmentfonds kauft, sollte künftig genauer hinschauen, was in der Tüte drin ist.“ Will heißen: „Wir müssen uns mit dem Kunden noch mehr Zeit nehmen, zu checken, welche Aktien und sonstigen Risikopapiere im Fondsmantel sind und wie das ins Portfolio des Kunden passt.“
Sie ergänzt: „Ich fürchte, mancher Privatanleger wird noch gar nicht wissen, dass er indirekt in Wirecard investiert war oder immer noch ist.“
„Gesundes Misstrauen ist das Gebot der Stunde“
Ob es uns gefällt oder nicht: Gut zehn Jahre nach der Finanzkrise ist der „Traum vom großen Geld“ zurückgekehrt und mit ihm auch die Gier bei der Geldanlage – vielleicht zusätzlich befeuert durch die ultraniedrigen Zinsen bei konservativen Geldanlagen und die riesige Liquiditätsblase, die durch die Welt vagabundiert und nach Anlage sucht.
Viele Anleger haben sich auch daran gewöhnt, dass der Staat und die Notenbanken es schon richten, wenn – wie im Frühjahr – die Kurse einmal stark zurücklaufen.
Eine Führungskraft im Private Banking bringt es so auf den Punkt: „Anleger sollten den Fall Wirecard als Weckruf ansehen, wieder kritischer zu hinterfragen, wo sie ihr Geld investieren.“
Und sie legt nach: „Nicht blind zu vertrauen, sondern sich ein gesundes Misstrauen zu erhalten, ist jetzt das Gebot der Stunde.“
Quelle: whofinance.de